Zwischenmenschliche Spannungen in Familien kommen recht häufig vor, sind nicht ungewöhnlich und gehören zu einem sozialen, gesunden Miteinander einfach dazu.
Gehen die Konflikte jedoch tiefer und entscheiden sich Eltern bewusst dazu, den Kontakt zu ihrem Kind abzubrechen, dann ist dies ein folgenschwerer Schritt, der in der Regel erst nach einem langen Leidensweg als letzte Möglichkeit in Erwägung gezogen wird. Dies betrifft bei weitem nicht nur Familien, die unter problematischen Verhältnissen zusammenleben. Sehr häufig trifft es auch Kinder, die in einem sehr behüteten Umfeld aufwachsen.
Die Gründe für einen Kontaktabbruch entwickeln sich meistens über Jahre hinweg und entstehen, wenn das Kind heranwächst. So innig das Verhältnis zwischen Eltern und Kind naturgemäß auch ist, so ist es für die Eltern doch ein sehr schmaler Grat und eine große Herausforderung, dem Nachwuchs ein gesundes Verhältnis zwischen Anpassung und Autonomie zu ermöglichen.
Kinder brauchen in ihrer Entwicklung die absolute Sicherheit, dass die Eltern im Ernstfall immer für sie da sind. Nur so kann sich das Urvertrauen entwickeln, welches für das Heranreifen einer gesunden und stabilen Persönlichkeit unabdingbar ist. Meinen es die Eltern allerdings zu gut mit der Fürsorge, kann dies dazu führen, dass Kinder zu überbehütet aufwachsen.
Eltern lassen ihren Kindern in den Fällen nicht ausreichend Raum für eine freie, persönliche Entfaltung. Eine eigene Meinung, eigene Erfahrungen (mögen sie auch unangenehm sein) und Selbstbestimmung kann das Kind hier nur schwer entwickeln.
Zu eng sind die Regeln der Eltern, zu wenig Raum bleibt für Autonomie und persönlichen Wachstum.
Kinder, die unter diesen Voraussetzungen aufwachsen, fühlen sich eingeengt, ohnmächtig und den Meinungen der Eltern hilflos ausgeliefert. In vielen Fällen zieht sich das bis ins Erwachsenenalter hinein.
Auf Dauer kann dies ein rebellisches Benehmen bei den Kindern auslösen. Wut und Aggressionen sind eine häufige Folge. Ist dieses Verhalten in der Pubertät durchaus normal, wird es spätestens im Erwachsenenalter aber zunehmend problematisch. Der Versuch, sich aus den engen Strukturen der Eltern zu befreien, führt unweigerlich zu immer stärkeren Konflikten und mit den Jahren zur Entfremdung zwischen Eltern und ihrem Kind.
In den verschiedensten Ausprägungen zeigen Kinder dann auf, dass die Eltern keine Macht mehr über sie haben. Nicht selten wird dies dann sogar mit suchtfördernden Substanzen und/oder kriminellem Verhalten kompensiert.
Durch nicht wahrgenommene Bedürfnisse, Schuldzuweisungen und Ablehnung entsteht mit den Jahren ein Teufelskreis, dem viele Familien aus eigenem Antrieb nur sehr schwer, bzw. gar nicht mehr entkommen können.
Perspektive der Eltern
Eltern trifft diese negative, destruktive Entwicklung sehr schwer, wollten sie doch immer nur das Beste für ihr Kind. Die gestörte zwischenmenschliche Beziehung ist für sie nicht nachvollziehbar. In ihrem Bestreben, noch etwas zu retten, alles richtig zu machen und die Bindung zu ihrem Kind wieder zu festigen, geschieht häufig jedoch genau das Gegenteil – das Kind fühlt sich eingeengter denn je und entfernt sich immer weiter von ihnen. Es wird immer unzugänglicher und die Eltern finden irgendwann überhaupt keinen Zugang mehr zu ihm.
Neben Verzweiflung und Hilflosigkeit sind auch ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle permanente Begleiter. Die allgegenwärtigen Fragen „Was haben wir nur falsch gemacht?“ und „Was können wir tun?“ rauben ihnen die letzte Energie.
Das Dilemma an der Situation ist häufig darin begründet, dass Eltern in einer Negativspirale gefangen sind und sich in einer emotionalen Abhängigkeit befinden.
Sie drehen sich im Kreis, denn ihr Fokus liegt auf den Problemen, die mit ihrem Kind bestehen und weniger auf den Lösungsmöglichkeiten. Auch werden die wahren Gründe für die gestörte Beziehung zu ihrem Kind nicht erkannt. Ihr Blick ist in dem Punkt getrübt und zu sehr auf ihr eigenes Leiden ausgerichtet. So lassen sich natürlich auch nur sehr schwer erfolgreiche Lösungen für die Probleme herbeiführen – im Gegenteil.
Dies ist ein Prozess, der sich häufig über viele Jahre erstreckt. Dieses Wechselspiel aus mangelnder Autonomie, rebellischem Verhalten und Verlust an Nähe wirkt sich irgendwann unweigerlich auch auf die Gesundheit der Eltern aus. Psychosomatische Erkrankungen, wie bspw. Depressionen und Burn Out sind nur einige Beschwerden, die in Folge auftreten können.
Für Eltern kann die Abwehrhaltung ihrer Kinder so traumatisch sein, dass für sie als letzter Ausweg als Schutzstrategie nur noch der Kontaktabbruch zu ihrem Kind in Frage kommt. Zu groß ist der Schmerz, der durch das Verhalten und die Ablehnung ihres Kindes verursacht wird.
Perspektive des Kindes
Nicht nur den Eltern, auch den Kindern geht es in dieser Beziehung und unter diesen Voraussetzungen alles andere als gut. Sie erleben einen permanenten Kampf zwischen Anpassung und Autonomie.
Häufig fühlen sie sich von den Eltern nicht verstanden. Ihre Probleme werden nicht gesehen, ihre Bedürfnisse nicht wahrgenommen. All dies sorgt dafür, dass sich ein Gefühl der Ohnmacht entwickelt. Das Empfinden „ohne Macht“ zu sein, löst letztlich Wut und Aggressionen, Trauer und Hilflosigkeit aus, welche sich mit den Jahren in einen chronischen Dauerzustand manifestieren können. Was das Kind braucht und was die Eltern geben, geht leider allzu oft völlig aneinander vorbei. Die Eltern meinen es gut, geben Ratschläge und bieten Lösungsvorschläge an, ohne allerdings das Bedürfnis des Kindes überhaupt verstanden zu haben.
Sie möchten ihrem Kind schmerzhafte Erfahrungen ersparen. Sie erkennen dabei jedoch nicht, dass Kinder auch ein Recht darauf haben, negative Erfahrungen zu sammeln und dass diese sogar essentiell wichtig sind für ein gesundes Heranwachsen.
Auf diese Weise entsteht mit der Zeit eine sehr unglückliche Spirale aus Ursache und Wirkung. Die Kinder bleiben mit ihren unterdrückten, negativen Gefühlen am Ende allein zurück.
Erschwerend kommt hinzu, dass viele Kinder nicht gelernt haben, ihre Emotionen zum Ausdruck zu bringen und ihre Bedürfnisse zu kommunizieren.
Mit zunehmendem Alter flüchten sie sich dann nicht selten in ein Verhalten, welches alles andere als gesundheits- und beziehungsfördernd ist. Drogen- und Alkoholabhängigkeit, Spiel- und Mediensucht und ein Abrutschen in ein kriminelles oder sektenähnliches Milieu sind nur einige Verhaltensweisen, die aus der negativen Eltern-Kind-Beziehung entstehen können.
Tritt tatsächlich die Situation ein, dass Eltern den Kontakt zu ihrem Nachwuchs als letzte Möglichkeit abbrechen, sorgt dies bei den meisten Kindern zusätzlich nochmal für einen erheblichen Leidensdruck, welcher die Situation noch verschlimmert.
Ist die Eltern-Kind-Beziehung erst einmal an diesem Punkt angekommen, sind häufig schon viele Jahre ins Land gezogen und die Fronten verhärtet. Aus eigenem Antrieb ist es in den meisten Fällen weder für die Eltern noch für die Kinder möglich, das zwischenmenschliche Verhältnis wieder zu heilen. Zu groß sind die Enttäuschungen und Verletzungen auf beiden Seiten.
Was nun helfen kann
Ist die Situation zwischen Eltern und Kind so verfahren wie oben beschrieben, empfiehlt es sich, Hilfe in Form eines Therapeuten oder Coaches in Erwägung zu ziehen.
Allzu häufig fällt nämlich einer externen, psychologisch geschulten Person erst auf, dass bei den Eltern selbst noch Wunden aus ihrer eigenen Vergangenheit existieren, die erst geheilt werden müssen, bevor die Beziehung zu ihrem Kind stabilisiert werden kann.
Metaphorisch ist das vergleichbar mit einer Notfallsituation in einem Flugzeug. Auch hier sollte man sich erst einmal selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen, bevor man seinem Sitznachbarn hilft.
Es gilt in erster Linie, dass Eltern wieder lernen, Selbstfürsorge und Achtsamkeit zu erleben, sich ihrer Selbst bewusst zu werden und negative Verhaltensmuster und alte Verletzungen aus der eigenen Vergangenheit zu erkennen.
Ein Therapeut oder Coach kann mit einer gezielten Gesprächsführung genau diese Themen mit den Eltern aufarbeiten und ihren Selbstwert wieder stärken. Sie lernen, wie sie mit negativen Emotionen, wie Trauer, Wut, Angst und Scham umgehen können, ohne diese zu unterdrücken.
So aufgestellt, sind die Eltern im folgenden Verlauf mental auch stabil genug, die Beziehung zu ihrem Kind mit professioneller Unterstützung zu reflektieren und wieder zu heilen.
Auch mit Hilfe von außen können die Eltern das Verhalten ihres Kindes natürlich nicht ändern. Was sie jedoch beeinflussen können, ist die Art und Weise, wie sie selbst mit der Situation umgehen. Nur so kann die Chance entstehen, dass das Kind seine Eltern auf eine andere Art und Weise wahrnimmt.
Der Heilungsprozess ist ein langer Weg. Wird jedoch frühzeitig Hilfe in Anspruch genommen, kann die Eltern-Kind-Beziehung bereits in einem frühen Stadium stabilisiert werden, so dass ein Kontaktabbruch häufig gar nicht erst erforderlich ist.
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