Meine Mutter hat mich nie in den Arm genommen

Die einzigartige Beziehung, die zwischen Mutter und Kind besteht, hat die Natur nicht umsonst erschaffen. Schon im Mutterleib werden die ersten zarten Bande für eine lebenslange, enge Bindung zwischen den beiden geknüpft. Für den kleinen Menschen ist es die erste Beziehung zu seiner wichtigsten Bezugsperson.

Nach der Geburt verstärkt sich dieses Band zwischen Mutter und Kind im Normalfall. Es sorgt dafür, dass der Nachwuchs durch die Fürsorge der Mutter umsorgt, beschützt und behütet aufwächst.

Eine Mutter-Kind-Beziehung kann jedoch auch dysfunktionale Muster aufweisen. Wenn die Mutter nicht in der Lage ist, Emotionen zu zeigen und dem eigenen Nachwuchs mehr funktional als emotional begegnet, kann sich dies sehr negativ auf das Kind auswirken. Wie es zu einer emotionalen Entfremdung zwischen Mutter und Kind kommen kann und was man dagegen tun kann, erfährst du in diesem Beitrag.

Ausprägungen einer unsicheren Mutter-Kind-Bindung

Wenn sich ein kleines Kind bspw. verletzt, traurig ist, Verzweiflung verspürt oder Angst hat, sucht es im Normalfall sofort den Rückhalt der Mutter. Hier kann es sich erholen und neuen Mut schöpfen, um anschließend wieder in seiner kindlichen Welt zu neuen Taten aufzubrechen.

Wächst ein Kind nun in einem familiären Umfeld auf, in dem Gefühle jeglicher Art unterdrückt werden, sucht es nun verzweifelt nach dem o. g. sicheren Hafen. Es wartet jedoch vergeblich auf eine Umarmung, ein liebes Wort, auf Trost und Unterstützung der Mutter.

„Stell dich nicht so an.“

„Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“

„So schlimm ist es nun auch wieder nicht.“

So oder so ähnlich können die Aussagen lauten, die ihnen nun von der Mutter entgegengebracht werden. Von Empathie und Verständnis keine Spur. In der Welt des kleinen Kindes entsteht nun eine echte Notsituation. Wer kommt ihm zu Hilfe?

Es gibt Mutter-Kind-Beziehungen, in denen die Mutter nicht fähig ist, Emotionen nach außen zu zeigen. Es herrscht ein zwischenmenschliches Klima der Kälte, was sich unweigerlich auf das Kind auswirkt. Es mangelt an Geborgenheit, Gemeinsamkeit und Nähe. Stattdessen dominieren Ablehnung, Einsamkeit und Lieblosigkeit.

Die emotionale Distanz der Mutter bedeutet nicht automatisch, dass sie ihr Kind nicht liebt. Auch an materiellen Dingen mangelt es diesen Kindern häufig nicht.

Doch wie kann es dann überhaupt so weit kommen, dass eine emotionale Bindung, die die Natur so klug eingefädelt hat, so frappierend gefährdet werden kann?

Ursachen für die emotionale Distanz der Mutter

Die Ursachen dafür, dass Menschen, ihre Emotionen nicht zum Ausdruck bringen können, liegen häufig in der eigenen Kindheit begraben. Diese Personen haben selbst oft Ablehnung, Kälte, Lieblosigkeit und tiefgreifende Verletzungen in jungen Jahren erfahren müssen. Um in diesem Umfeld „überleben“ zu können, haben sie sich schon früh angeeignet, die eigenen Emotionen einzufrieren. Sie sind emotional erstarrt. Dieses Verhalten hat ihnen in ihrer Kindheit erfolgreich dabei geholfen, sich vor weiteren Verletzungen zu schützen.

Ein Kind, das mit unterdrückten Emotionen der Eltern aufwächst, empfindet es als normal, die eigenen Gefühle nicht zu zeigen. Das distanzierte Verhalten, bspw. der Mutter, wird von ihnen häufig automatisch übernommen. Dieser vermeintliche Schutzmechanismus begleitet das Kind nun unbewusst im weiteren Verlauf seines Lebens.

Später im Erwachsenenalter, wenn diese Person selbst Kinder bekommen sollte, kann eine gefühlsbetonte Beziehung zum eigenen Kind gar nicht erst entstehen.

Hält man sich die Ursache für dieses dysfunktionale Verhaltensmuster einmal bewusst vor Augen, wird klar, dass es sich hier im unglücklichsten Fall um ein generationsübergreifendes Problem handelt. Denn bekommt der Nachwuchs nicht irgendwann vorgelebt, dass Gefühle gut sind und gezeigt werden dürfen, werden auch sie dieses ungesunde Verhalten als normal betrachten und an die eigenen Nachkommen weitergeben.

Ein Teufelskreis, der weitreichende Folgen über Generationen hinweg für betroffene Kinder haben kann.

Emotionale Folgen für das Kind

Für Kinder ist es elementar wichtig, von klein auf schon einen angemessenen Umgang mit den eigenen Gefühlen zu erlernen. Dies ermöglicht es ihnen später, zu einer sozial kompatiblen, selbstbewussten, empathischen, stabilen Persönlichkeit heranzuwachsen. Da sich der Mensch als soziales Wesen permanent im Umgang mit anderen Menschen befindet, ist dies eine grundsätzliche Entwicklung, die von Seiten der Eltern unbedingt gefördert werden sollte.

Ein Kind, das nun von der Mutter nie in den Arm genommen wird, fühlt sich nicht gesehen, unsichtbar und unwichtig. Sein Grundbedürfnis nach Liebe wird nicht erfüllt. Es mangelt an emotionalem Halt und mütterlicher Unterstützung. Leider können kleine Kinder noch nicht unterscheiden, dass das Verhalten der Mutter nichts mit ihnen zu tun hat. Die eigenen Eltern stehen für Kinder auf einem hohen Podest und sind ohne Fehl und Tadel. Was sie tun, sagen und machen wird vom Nachwuchs nie in Frage gestellt. Was die Eltern machen, ist in ihren Augen grundsätzlich immer erstmal alles richtig.

Wächst ein Kind nun mit einer gefühlskalten Mutter auf, geht es automatisch davon aus, dass es nur an ihm liegen kann, dass es keine Liebe und Zuneigung erfährt. In der Welt des Kindes, muss mit ihm irgendetwas nicht richtig sein, sonst würde die Mutter es ja mal in den Arm nehmen, trösten, Sicherheit geben und Liebe schenken. All dies geschieht jedoch nicht. Das so elementar wichtige Urvertrauen des Kindes erfährt dadurch einen gefährlichen Knacks.

Ein Kind, das sich mit der Mutter auf emotionaler Ebene nicht verbunden fühlt, macht viel mit sich selbst aus und versucht, Probleme allein zu lösen. Zeitgleich wendet es Strategien an, mit denen es die Gunst der Mutter erlangen möchte. So kommt es nicht selten vor, dass diese Kinder Verhaltensauffälligkeiten an den Tag legen. Sie versuchen durch unangemessenes Verhalten die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich zu lenken, ihre Beachtung zu bekommen und Liebe zu erfahren. Zu oft leider ohne Erfolg.

Diese dysfunktionalen Bedingungen sind Gift für das Gefühlsleben des Kindes und der optimale Nährboden für negative Glaubenssätze. Negative Glaubenssätze sind Überzeugungen, die sich schon in der Kindheit entwickeln und den Selbstwert des Kindes auf schädliche Weise beeinflussen. Betroffene Kinder haben häufig ein Leben lang mit dieser Prägung zu kämpfen.

„Ich bin nicht liebenswert.“

„Ich bin nicht gut genug.“

„Ich bin es nicht wert.“

Dies sind nur einige Beispiele von negativen Glaubenssätzen, die sich besonders oft manifestieren. Das fatale an diesen limitierenden Überzeugungen ist, dass die Betroffenen felsenfest davon überzeugt sind, dass diese Annahmen stimmen. Die Erfahrungen, die ihnen in ihrer Kindheit widerfahren sind, lassen in ihrer Welt überhaupt keinen Raum für eine andere Ansicht. Sie sind geprägt von abwertenden Gedanken sich selbst gegenüber.

Hat sich ein Kind durch die emotional verkümmerten ersten Lebensjahre gekämpft und führt es irgendwann sein eigenes Leben, ist es mit dem Schmerz aber noch lange nicht vorbei. Die dysfunktionalen Auswirkungen seiner Erziehung zeigen oft erst im Erwachsenenalter ihre ganze schädigende Wirkung.

Eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung kann ein Leben lang bestehen bleiben. Auch im Erwachsenenalter bleiben Gespräche zwischen Mutter und Kind dann in den meisten Fällen oberflächlich. Von einem ehrlichen, authentischen und emotionalen Austausch sind beide meilenweit entfernt.

Bindungsstörungen in Partnerschaften, übertriebener Perfektionismus, ein ausgeprägtes Helfersyndrom, eine tiefe Angst vor Ablehnung und überdimensionale Verlustängste können Folgen aus der Kindheit sein.

Betroffene Personen laufen mit diesen seelischen Wunden häufig ein Leben lang herum. Unfähig zu erkennen, dass dieser Zustand nicht „normal“ ist und eine Heilung auch in fortgeschrittenem Alter durchaus möglich ist.

Hilfe im Erwachsenenalter

Waren die Betroffenen in ihrer Kindheit der emotionalen Kälte der Mutter schutzlos ausgeliefert, so haben sie nun im Erwachsenenalter die Chance, diesen toxischen Kreislauf zu durchbrechen.

Dazu bedarf es aber unbedingt der Bewusstheit, woher die eigenen Verhaltensmuster, limitierenden Überzeugungen und abwertenden Gedanken überhaupt kommen.

Als Erwachsener darf man nun lernen, sich in Selbstliebe zu üben. Es darf einem bewusst werden, wie liebenswert, wertvoll und einzigartig man doch eigentlich ist und dass das Verhalten der Mutter rein gar nichts mit der eigenen Person zu tun hat.

Auch im Erwachsenenalter wird man die eigene Mutter nicht ändern können. Was man aber ändern kann, ist die persönliche Einstellung zu Personen und Situationen.

Hier und heute können Betroffene nämlich selbst bestimmen, wie sie sich fühlen wollen. Sie sind nicht mehr von der Aufmerksamkeit und dem Wohlwollen der Mutter abhängig. Leider kommt das Unterbewusstsein an der Stelle oft nicht hinterher. Hartnäckige negative Glaubenssätze blockieren hier häufig den Weg.

Externe Unterstützung kann im Verlauf dieses Aufarbeitungsprozesses sehr hilfreich sein. Mit einem Therapeuten oder Coach kann man einmal gemeinsam die Mutter-Kind-Beziehung in der Rückschau betrachten und dysfunktionale Muster aufdecken.

Nach dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ wird nun geschaut, wie man den Selbstwert steigern und wieder in Kontakt mit den eigenen Emotionen kommen kann.

Auch das Thema Vergebung kann mit professioneller Hilfe einmal betrachtet werden. Menschen zu vergeben kann ein elementarer Schritt zur inneren Heilung sein. Kann man der eigenen Mutter das schädliche Verhalten denn überhaupt verzeihen? Wie begegnet man sich zukünftig, ohne dass in einem innerlich wieder der Autopilot anspringt und negative Überzeugungen die Oberhand gewinnen? Ist ein Kontaktabbruch zur Mutter möglicherweise der einzige Ausweg?

All diese Fragen können mit professioneller Begleitung aufgearbeitet werden.

Sich als erwachsene Person darüber klar zu werden, dass das Verhalten der Mutter nichts mit einem selbst zu tun hatte, kann dabei helfen, inneren Frieden zu finden. Vergebung bedeutet frei und unabhängig zu sein von schädlichen Prägungen aus der Vergangenheit. Stattdessen hat man nun die Chance, sich Neuem zu öffnen und sein Leben selbstbestimmt zu gestalten.