Und plötzlich ist es still – Wenn Kinder ihre Eltern verlassen
Der Schock sitzt tief und der Schmerz ist groß: Brechen Kinder den Kontakt zu ihren Eltern ab, ist das ein Verlust, der mit kaum etwas anderem vergleichbar ist.
Unweigerlich tauchen sie auf, die Fragen, auf die es für die Eltern scheinbar keine Antworten gibt:
„Warum tut unser Kind uns das an?“
„Was haben wir falsch gemacht? Wo haben wir versagt?“
„Haben wir nicht alles getan, damit unser Kind behütet und sicher aufwächst?“
Fast ebenso automatisiert wie die Fragen, folgen Aussagen der Wut, geboren aus Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit:
„So etwas Undankbares!! Wie kann unser Kind uns das antun?!“
„Wir haben uns jahrelang aufgeopfert für unser Kind – und DAS ist jetzt der Dank?!“
„Kaltherzig und egoistisch – das hätten wir von unserem Kind niemals erwartet!“
Aussagen und Gedanken wie diese, lassen nur erahnen, was in den Eltern vorgeht und was die Trennung für ein emotionales Chaos in ihnen auslöst. Gefangen in einer schier endlosen Frage-Antwort-Spirale dreht es sich am Ende doch immer wieder um den gleichen Punkt: Warum ist das Kind diesen Schritt gegangen? Oft ein abrupter Kontaktabbruch von heute auf morgen. Scheinbar ohne Vorankündigung und ohne ein Wort der Erklärung. Einen Abschied gibt es nicht. Und genau das ist es, was es für die Eltern so unglaublich schwierig macht, mit der Situation umzugehen. Sind Enkelkinder im Spiel, erhöht sich das Leid nochmal um ein Vielfaches. Denn nun gerät auch die Rolle als Großeltern bedrohlich ins Wanken.
Auf sehr schmerzhafte Art und Weise müssen Eltern nun erkennen, dass auch Schweigen eine Form der Kommunikation ist. Vergleichbar mit einem tiefsitzenden Stachel, der nicht gezogen werden kann. Oder einer offenen Wunde, die einfach nicht verheilen will.
Die große Ungewissheit und die fehlende Perspektive können verlassene Eltern mit der Zeit mürbe machen – körperlich und emotional. Ihr Weltbild gerät ins Wanken, ihr Vertrauen ist erschüttert. Ihnen fehlen die Gründe, die Auslöser, ein Anhaltspunkt, was in der Beziehung zu ihrem Kind schiefgelaufen ist. Hätten sie dieses Wissen, könnten sie zumindest trauern. Aber so bleibt nur eine große Leere zurück.
Wie konnte es so weit kommen?
Von außen betrachtet scheint es auf den ersten Blick keine Antwort auf das „Warum“ zu geben. Das Kind wuchs doch behütet und sicher auf, wurde gefördert und gefordert, liebevoll umsorgt und mit allem ausgestattet, was es für ein gesundes Aufwachsen benötigt.
Kinder aus Familien, in denen Gewalt und (emotionaler & körperlicher) Missbrauch vorherrscht(en), seien an dieser Stelle ausgeklammert. Die Gründe, warum das Kind in dem Fall einen Kontaktabbruch wünscht, liegen zweifelsohne auf der Hand.
Bei Kindern, aus einer sozial stabilen Familie gestaltet sich die Ursachenforschung jedoch schon schwieriger. Oft muss hier tiefer geschaut werden, was der oder die Auslöser sein könnten, warum sich das Kind von den Eltern distanziert.
Die Eltern können die Gründe häufig nur schwer selbst erkennen. Nachvollziehbar sind sie zu sehr in ihren eigenen Emotionen verstrickt und die Wahrnehmung ist daher einseitig getrübt.
Außenstehende Personen, wie bspw. ein Coach oder ein Psychologe erkennen jedoch sehr oft Verhaltensmuster, die die Gründe für die Distanzierung oder den Kontaktabbruch erklären können.
Nicht selten ist es das empfindliche Ausbalancieren von Bindung und Autonomie, worunter die Eltern-Kind-Beziehung mit den Jahren gelitten hat. Dem Nachwuchs wird häufig leider zu wenig zugetraut und zu wenig Raum zur freien persönlichen Entfaltung gegeben.
Das Kind fühlt sich dadurch eingeengt, von der Liebe der Eltern erdrückt. Es droht ein Leben in Unselbständigkeit.
Um sich von diesen unsichtbaren Fesseln zu befreien, zieht es sich, meistens im jungen Erwachsenenalter, von den Eltern zurück. Das muss nicht immer der große Paukenschlag, der unmittelbare Kontaktabbruch sein. Oft ist es ein schleichender Prozess. Da werden die Besuche bei den Eltern immer seltener und verkommen zu „Pflichtveranstaltungen“. Einzig das schlechte Gewissen und moralische Gründe sind der Antrieb, sich mal wieder bei den Eltern zu melden. Mit echtem Interesse aneinander hat das aber nicht mehr viel zu tun; von einer gesunden Eltern-Kind-Bindung kann keine Rede mehr sein.
Eltern nehmen diese Entwicklung oft auf einer unterschwelligen Ebene wahr. Sie spüren den Kontrollverlust, wollen das Kind an sich binden. Immer mit dabei, die Angst, nicht mehr gebraucht zu werden. In ihren Bemühungen, ihr Kind näher an sich zu binden, setzen sie, häufig unbewusst, manipulative Taktiken ein. Es wird ein schlechtes Gewissen gemacht, Vorwürfe fallen und es wird an das Pflichtgefühl des Kindes appelliert. All diese Maßnahmen haben langfristig aber keinen Erfolg, sondern erzielen genau das Gegenteil.
Folgt das Kind in einem ersten Impuls diesen Aufforderungen, so fühlt es sich auf Dauer aber immer mehr in die Enge getrieben. Es gerät immer weiter unter Druck und fühlt sich gemaßregelt. Die so dringend benötigte Selbstbestimmtheit verkümmert immer mehr. Wut, Trotz, Scham und Schuldgefühle nehmen immer weiter zu. Es schwelt und brodelt unter der Oberfläche, häufig über Jahre hinweg.
Und so kommt es, wie es kommen muss: das Kind verschafft sich irgendwann seinen Freiraum, indem es sich von den Eltern distanziert. Es erkämpft sich einen geschützten Raum, in dem es autark leben und entscheiden kann. Nähe macht nun mal bekanntermaßen verletzlich. Und so flüchten sie irgendwann regelrecht aus der Eltern-Kind-Beziehung.
Wenn Kinder nicht gelernt haben, offen zu kommunizieren, was in ihnen vorgeht, bleiben dessen Eltern nun häufig mit der eingangs beschriebener Rat- und Hilflosigkeit zurück. Feine Signale, die das Kind im Laufe der Zeit sehr wahrscheinlich immer mal wieder ausgesendet hat, sind von den Eltern nicht wahrgenommen worden.
Die Kinder empfinden oft erst einmal ein Gefühl der Erleichterung. Sie bekommen wieder Luft, können eigenmächtig Entscheidungen treffen und fühlen sich nicht länger klein und unselbständig.
Inneren Frieden finden sie aber auch nach dem Kontaktabbruch häufig nicht. Schließlich haben sie sich von ihren wichtigsten Bezugspersonen abgewendet.
Und so bleiben am Ende alle Beteiligten mit seelischem Schmerz und einem Gefühl von Verlust und Leere zurück. Über allem die Frage: Wie kann es weitergehen? Kann es überhaupt gemeinsam weitergehen?
Ein Zurück gibt es nicht! Oder vielleicht doch?
Ein Zurück zu der Beziehung, so, wie sie bisher bestand, kann und sollte nicht das erklärte Ziel sein. Schließlich liegen hier die Auslöser für die zerrüttete Eltern-Kind-Beziehung verborgen.
Ein Zurück im Sinne einer Annäherung ist aber in den meisten Familien sehr wohl möglich. Sofern alle Beteiligten aus intrinsischen Motiven diesen Wunsch auch wirklich hegen! Keiner der Betroffenen sollte sich zu diesem Schritt genötigt fühlen. Nur wenn die Bereitschaft für eine Annäherung auf beiden Seiten ehrlich und authentisch ist, wertschätzend und aufrichtig, kann ein Neuanfang der Eltern-Kind-Beziehung gelingen.
In dieser so sensiblen Phase der Annäherung sollten Eltern auf keinen Fall Druck auf das Kind ausüben. Vorwürfe und Anschuldigungen sind absolut kontraindiziert und sind auf jeden Fall zu vermeiden. Wichtig ist ein Austausch auf Augenhöhe und die Bereitschaft auf allen Seiten, behutsam und wertschätzend wieder ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.
Die Annäherung ist ein langwieriger, sehr sensibler Prozess, der sich mit Hilfe von außen, in Form eines Coaches oder psychologischen Therapeuten, sehr positiv entwickeln kann. Insbesondere den Eltern fehlt häufig die nötige Selbstreflexion, um zu erkennen, was die eigentlichen Auslöser für die gestörte Eltern-Kind-Beziehung sind. Diese liegen in den meisten Fällen nämlich in der eigenen Kindheit verborgen. Der Schmerz und das Leid, was ihnen selbst in der Vergangenheit widerfahren ist, geben sie nun unbewusst an ihre eigenen Kinder weiter. Mit Hilfe von professioneller Unterstützung kann dieser Kreislauf aber nun ein für alle Mal durchbrochen werden.
Erst wenn die Eltern bereit sind, ihre eigenen Wunden zu heilen und erkennen, dass es nicht die Aufgabe des Kindes ist, die eigene innere Leere zu füllen, können sie ihrem Kind auf Augenhöhe begegnen. Ganz langsam kann das Vertrauen zueinander wieder wachsen. Die Eltern lernen, ihrem Kind endlich einmal richtig zuzuhören, was seine eigentlichen Bedürfnisse sind. Und das Kind kann diese frei aussprechen, ohne Angst vor Sanktionen oder Liebesentzug zu haben.
Diese Entwicklung braucht jedoch Zeit. Zeit, die sich alle Beteiligten einräumen sollten.
Verhaltensmuster, die sich über Jahrzehnte manifestiert haben, können nicht mit ein bis zwei klärenden Gesprächen verändert werden. Hier ist Geduld und Nachsicht gefragt. Sind beide Seiten bereit, an sich zu arbeiten und zu vergeben, ist dies eine gute Grundlage, auf der eine neue, gesunde Eltern-Kind-Beziehung wachsen kann.