Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern ist etwas, das jedes Kind im Laufe des Heranwachsens mehr oder weniger automatisch erlangen sollte.
Viele Umstände können aber dazu führen, dass die emotionale Unabhängigkeit ausbleibt und auch schon erwachsene Kinder bis ins fortgeschrittene Alter ein extrem destruktives Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Eltern haben.
Wie kann es so weit kommen? Woran erkennt man, dass man noch emotional abhängig ist von den eigenen Eltern? Und lässt sich etwas dagegen tun?
Emotionale Abhängigkeit von den Eltern – in der Kindheit überlebenswichtig!
Zuerst sei einmal erwähnt, dass kleine Kinder von Natur aus emotional von ihren Eltern abhängig sind. Ohne deren Fürsorge, Zuwendung und Erfüllung der (Grund-)Bedürfnisse würden kleine Kinder unweigerlich sterben. Diese Form der Abhängigkeit hat in jungen Jahren somit eine wichtige Schutzfunktion für das Kind und ist durchaus gewollt.
In der Pubertät beginnt sich das Blatt allerdings langsam zu wandeln. Das Kind löst sich Schritt für Schritt aus der engen emotionalen Bindung der Eltern. Es lernt, selbstständiger zu werden, seine eigenen Bedürfnisse besser zu verstehen und selbstbewusst die ersten Entscheidungen allein zu treffen. Gelingt den Eltern der sensible Balanceakt zwischen Autonomie und Bindung, ist dies ein großer Schritt in Richtung einer dauerhaft gesunden und stabilen Eltern-Kind-Beziehung.
Dieser so wichtige Abnabelungsprozess von den Eltern findet in vielen Familien jedoch leider nicht in einem gesunden Maß statt. Eine Unterstützung und Begleitung des Kindes durch die Eltern in dieser Lebensphase sucht man in diesen Familien vergeblich. Der Widerstand des jungen Heranwachsenden wird falsch interpretiert, als persönlicher Angriff gewertet oder in welcher Form auch immer, negativ ausgelegt. Eine sehr intensive, stimmungsgeladene Zeit, die die Eltern-Kind-Bindung oft auf eine harte Probe stellt.
Wie entsteht emotionale Abhängigkeit im Erwachsenenalter?
Wie bereits erwähnt, wird der Grundstein für diese Form der Abhängigkeit bereits in der Kindheit gelegt. Wenn Kinder im Laufe ihres Heranwachsens nicht die Möglichkeit bekommen, ihre eigene Persönlichkeit zu entfalten, kann dies zu einer emotionalen Abhängigkeit von den Eltern führen.
Ein häufiger Fehler von Eltern ist dabei die Projektion der eigenen Wünsche auf das Kind. Für etwas, was sie selbst nicht erreicht haben, soll nun das Kind die Verantwortung und Erfüllung übernehmen. Dieses Verhalten ist häufig die Ursache für viel Leid beim Kind. Die Wünsche und Vorstellungen des Nachwuchses finden dabei nämlich keine Berücksichtigung.
Ein weiterer grober Denkfehler liegt in einer überbehüteten Erziehung. Kinder dürfen und müssen lernen, dass Niederlagen und Fehler machen zum Leben dazu gehören. Es ist ein absolut normaler Entwicklungsprozess, der viel Empathie, Fürsorge und Weitsicht von den Eltern erfordert. Eltern, die ihre Kinder vor allem Negativen beschützen wollen und es in Watte packen, unterdrücken bei ihnen damit das normale Bedürfnis nach mehr Selbstständigkeit.
Leider gibt es in vielen Familien auch das Phänomen der vertauschten Rollenbilder. Liegen dysfunktionale Familienmuster vor, kann es passieren, dass sich das Kind für das Wohlergehen und die Probleme der Eltern verantwortlich fühlt. Wächst es mit dieser Bürde auf, wird sich das Verhalten und damit verbundene Schuldgefühle auch im Erwachsenenalter fortsetzen.
Folgen einer emotionalen Abhängigkeit
Die Folgen einer emotionalen Abhängigkeit von den Eltern sind insbesondere im Erwachsenenalter etwas, das viel Leid bei den Betroffenen auslöst. Oft können die inzwischen erwachsenen Kinder den Grund für ihre negativen Gefühle nicht zuordnen und bringen es in den seltensten Fällen direkt mit der Eltern-Kind-Beziehung in Verbindung.
Eine emotionale Abhängigkeit von den Eltern lässt sich anhand einiger Merkmale jedoch ganz gut erkennen. Wenn man im Kontakt mit den Eltern den Zugang zu den eigenen Emotionen verliert und diese nicht mehr gut kontrollieren kann, kann dies ein Indiz für eine emotionale Abhängigkeit sein. Häufig sind es sogenannte „Trigger“, die die eigene Stimmung von einem Moment auf den anderen zum Kippen bringen und negative Emotionen verursachen.
Ein Gefühl der Angst, der Unterwerfung, ein Unwohlsein oder auch Minderwertigkeitsgefühle im Beisein der Eltern sind deutliche Hinweise, dass noch ein ungesundes emotionales Abhängigkeitsverhältnis besteht. Auch innerer Widerstand, das Gefühl sich ständig rechtfertigen zu müssen oder ein akuter Fluchtreflex in Zusammenhang mit den Eltern sollten wahr- und ernstgenommen werden.
Erwachsene Kinder, die emotional noch von ihren Eltern abhängig sind, leiden häufig unter einem geringen Selbstwertgefühl und haben wenig bzw. kein Selbstvertrauen. Sie sind nicht in der Lage ihr eigenes Leben zu führen, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen und gesunde zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen. In Gegenwart ihrer Eltern fühlen sie sich einfach immer noch wie „das kleine Kind“, das ohne sie eben nichts erreichen kann.
So gelingt der Schritt in die emotionale Unabhängigkeit
Reibungspunkte zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern sind absolut normal. Unterschiedliche Meinungen, Ziele und Werte können für Konflikte sorgen, mit denen alle Beteiligten auch im fortgeschrittenen Alter konstruktiv und erwachsen umgehen sollten.
Für Kinder, die in einer emotionalen Abhängigkeit zu ihren Eltern stecken, ist dieses Verhalten intrinsisch jedoch nicht abrufbar. Sie müssen erst lernen, dass sie Situationen aktiv mitgestalten können und dem Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit nicht länger ausgeliefert sind. Ein selbstbewusstes Auftreten, Standfestigkeit in Bezug auf die eigene Meinung und stolz zu sein, auf das, was man erreicht hat, fällt vielen erwachsenen Kindern gegenüber den Eltern sehr schwer. Auch ein schlechtes Gewissen kann ein innerer Saboteur sein, der den emotionalen Abnabelungsprozess verhindert.
Folgende Punkte können helfen, die Abhängigkeit zu den Eltern Schritt für Schritt aufzulösen:
Nicht für die Eltern verantwortlich fühlen
Das Auflösen dieser verqueren Denkweise kann für betroffene Kinder ein echter Gamechanger in der persönlichen Weiterentwicklung sein. Die Natur hat nicht vorgesehen, dass sich Kinder für ihre Eltern und deren Probleme verantwortlich fühlen sollen.
Eltern nicht ändern wollen
Auch wenn es Kinder noch so sehr wollen: Eltern (und Menschen generell) lassen sich nicht dauerhaft in ihrem Wesen und Verhalten ändern, wenn diese es nicht aus eigenem Antrieb wollen. Worauf man als Kind jedoch jederzeit Einfluss nehmen kann, ist die eigene innere Einstellung zu der Meinung und dem Verhalten der Eltern.
Verständnis für die Eltern aufbringen
So paradox es auch klingt, kann dies ein wesentlicher Punkt sein, wie die emotionale Unabhängigkeit gelingt. Um ehrliches Verständnis aufkommen zu lassen, ist jedoch ein innerer Abstand zu den Eltern erforderlich. Dabei kann es hilfreich sein, die Eltern nicht aus der Rolle des Kindes, sondern aus den Augen einer außenstehenden Person zu betrachten. Oft lässt sich ihr Verhalten aus der Metaebene besser nachvollziehen. Auch die eigenen Eltern tragen eine Vergangenheit mit sich herum, die vielleicht auch nicht immer leicht und unbeschwert war.
Den Eltern vergeben
So schwer es vielen Kindern auch fällt, ist es im Aufarbeitungsprozess enorm wichtig, den eigenen Eltern ihr Verhalten zu vergeben. Nur so können sie die alte, schädliche Verbindung endgültig loslassen. Das bedeutet nicht automatisch, dass man den Eltern ihr mitunter destruktives Verhalten gutheißen soll. Ehrliche Vergebung macht aber den Raum auf, mit der Vergangenheit inneren Frieden zu schließen und endlich rauszukommen aus der Opferrolle.
Professionelle Hilfe
Betroffene erwachsene Kinder, die sich allein nicht aus der emotionalen Abhängigkeit ihrer Eltern lösen können, sollten die Möglichkeit einer professionellen Unterstützung in Erwägung ziehen. Keinesfalls müssen sie die Last und das Leid aus der Vergangenheit allein bewältigen, wenn sie sich dazu nicht in der Lage fühlen.
Betroffene haben oft Zweifel, ob sie sich aus der emotionalen Abhängigkeit der Eltern befreien dürfen. Die Antwort lautet: JA – sie dürfen und sollten es! Unbedingt und jederzeit! Denn am Ende der aufwändigen Aufarbeitung und dem Prozess der inneren Heilung wartet die Erfüllung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Ein Leben ganz ohne Gewissensbisse und frei von den Erwartungen der eigenen Eltern.