Konfliktbewältigung in der Familie

Ein Gewitter reinigt die Luft – wer kennt es nicht, dieses Sprichwort. Und es ist durchaus etwas Wahres dran. Ein Gewitter sorgt erst einmal für schwere, düstere Wolken, stürmische Verhältnisse und eine angespannte Atmosphäre. Hat man das Unwetter jedoch überstanden, dann sieht die Sache auf einmal ganz anders aus: der Himmel ist wieder blau, die Luft ist klar, die Sicht frei und man kann wieder durchatmen. Genauso verhält es sich auch, wenn es um Konflikte im sozialen Umfeld, bspw. der Familie geht. Auch hier muss sich der Unmut irgendwann einmal Luft machen, damit hinterher wieder ein harmonisches Miteinander möglich ist.

Kann sich ein Gewitter jedoch nicht „entladen“, kann es richtig ungemütlich werden. Wenn sich die Wolken unheilvoll über einen längeren Zeitraum über einem zusammenbrauen, die Luft immer dicker wird, der Himmel immer dunkler, die Atmosphäre immer drückender. Das Unwetter nimmt seinen Lauf und entlädt sich irgendwann in einem sprichwörtlichen „Donnerwetter“, das es in sich hat.

Metaphorisch steht das spannungsgeladene Wetterphänomen für nicht ausgetragene zwischenmenschliche Konflikte. Das Verhältnis zwischen den betroffenen Personen kann dadurch erheblichen, dauerhaften Schaden erleiden. Insbesondere in Familien kommen unterdrückte Konflikte immer wieder vor und sorgen für nachhaltige Störungen im Familiensystem, bis hin zum völligen Kontaktabbruch.

Wie es zu nicht ausgelebten Konflikten kommen kann und warum es so wichtig ist, diese auf angemessene Art und Weise auszutragen, erfährst du in diesem Artikel.

Warum eine gute Streitkultur wichtig ist

Streiten gehört zur Entwicklung des Charakters dazu und ist vom Grunde her auch erst einmal nichts Schlechtes. Konflikte können immer und überall auftreten, egal ob beruflich oder privat. Weichen Ziele, Werte und Meinungen voneinander ab, kann es zu Reibungspunkten kommen. Das ist vollkommen normal, auch und insbesondere in Familien.

Innerhalb der eigenen Familie kann man sich aber meistens nicht einfach so umdrehen und gehen, wenn einem etwas nicht gefällt. In einem gesunden Familiensystem ist eine Konfrontation häufig unausweichlich und sollte auch nicht zwingend vermieden werden. Im Gegenteil.

Ein Konflikt auf Augenhöhe ausgetragen, sorgt für eine höhere Bindung und stärkt die Beziehung zueinander. Man steht für sich und seine Werte und Bedürfnisse ein und fördert somit auch seinen eigenen Selbstwert. Zudem lernt man neue Sichtweisen kennen, wenn man sich mal in die Rolle des Gegenübers versetzt.

Ein sachlicher Meinungsaustausch hilft dabei, gemeinsam nach Lösungen zu suchen oder aber auch einen Kompromiss zu finden, der für alle Beteiligten in Ordnung ist. Eine gute offene Streitkultur fördert ein gesundes Miteinander und stärkt die Zusammengehörigkeit. Leider sieht die Realität jedoch sehr häufig anders aus.

Gründe, warum Konflikte in Familien nicht ausgetragen werden

Die Gründe, warum Konflikte und Meinungsverschiedenheiten in Familien nicht offen ausgetragen werden (können), sind vielfältig.

Häufig ist es die Angst vor den Folgen, die entstehen könnten, wenn man den Mund aufmacht und für sich und seine Werte und Bedürfnisse einsteht. Was, wenn der Partner wütend wird oder abfällig reagiert? Wenn die Eltern sauer werden oder gar nicht mehr mit einem sprechen? Wenn sie die Kritik auf dem „falschen Ohr“ wahrnehmen?

Und plötzlich sind sie da, die Ängste, die man unbewusst mal mehr mal weniger stark ausgeprägt mit sich herumträgt.

Die Verlustangst.

Die Angst vor Ablehnung.

Die Angst, nicht mehr gemocht zu werden.

Die Angst ausgestoßen zu werden.

Diese Ängste sind meistens schon in der Kindheit angelegt worden. Dann nämlich, wenn dem Kind bei Widerworten mit einer Strafe gedroht wurde. Das Kind hat abgespeichert, dass es sicherer ist, sich erst einmal still zu verhalten, wenn ihm etwas nicht gefällt. Nichts zu sagen, sich ruhig zu stellen und einen Weg zu finden, es mit sich selbst auszumachen. Aus Sicherheitsgründen wählte es den Weg des geringsten Übels. Diese Person hat in der Kindheit somit nicht gelernt, sich abzugrenzen und „gesund“ zu streiten. Konflikte, Meinungsverschiedenheiten, Reibungspunkte – all das ist mit etwas Negativem behaftet. Es bedeutet Stress, Schmerz und Scham. Unbewusst werden Konfliktsituationen fortan also so gut es geht vermieden. Im Laufe des Heranwachsens und spätestens im Erwachsenenleben kommen die negativen Folgen dieser Schutzstrategie aber an die Oberfläche.

Harmoniebedürftige und konfliktscheue Personen, umgangssprachlich auch als „People Pleaser“ bekannt, sind davon besonders betroffen. Sie meiden Konflikte jeder Art, stellen sich und ihre Bedürfnisse meistens zurück, lassen anderen den Vortritt und geben bei Konflikten häufig nach.

Sie flüchten aus Streitsituationen, da die Angst vor den möglicherweise negativen Folgen zu groß ist.

Gerade dieser Schutzmechanismus bewirkt nicht selten auf Dauer aber genau das: Die Beziehung in der Familie wird erheblich belastet.

Unterdrückte Konflikte und ihre Folgen

Streitereien und Meinungsverschiedenheiten, die dauerhaft nicht ausgetragen werden, können für alle Beteiligten sehr unangenehme Folgen haben.

Bei der konfliktscheuen Person stauen sich die negativen Gefühle immer weiter an, bis irgendwann die berühmte offene Zahnpastatube auf dem Waschbeckenrand das Fass zum Überlaufen bringt und sich der Unmut auf sehr schädliche Art und Weise explosionsartig Luft macht.

Der Adressat dieser emotionalen Entgleisung fühlt sich dann häufig überfordert, völlig überrascht und kann sich nicht erklären, woher dieser Ausbruch kommt. Wenn es sehr ungünstig läuft, folgt nun eine Kettenreaktion und der Gegenüber schießt genauso destruktiv zurück. Dass die Ursache des Konfliktes ganz woanders liegt, kommt den Beteiligten häufig erst einmal nicht in den Sinn.

Auf lange Sicht vergiften Streitereien wie diese das Familienleben erheblich. Die Stimmung im trauten Heim leidet darunter ebenso, wie die Gesundheit der beteiligten Personen. Probleme, die nicht angemessen in der Familie angesprochen und gelöst werden und der damit verbundene Stress, machen sich irgendwann auch auf physischer und psychischer Ebene bemerkbar.

Die Folgen können bspw. ein hoher Blutdruck, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Verdauungsprobleme oder auch Depressionen sein. Betroffene fühlen sich ausgelaugt und kraftlos.

Mit der Zeit können sich die Fronten verhärten und von authentischer, aufrichtiger Familienidylle ist dann nicht mehr viel zu spüren.

Ein Zustand, der an einem so sicheren Ort wie der eigenen Familie nicht vorherrschen sollte.

Unausgesprochene Konflikte werden so über Jahre oder Jahrzehnte mit sich herumgetragen. Viele Betroffene sehen ihre Rettung dann irgendwann nur noch in einem Kontaktabbruch zu einem Familienmitglied oder aber, im schlimmsten Fall, gleich zu der ganzen Familie. Häufig sind es dann die Kinder, die sich von ihren Eltern trennen. Ein Schritt, der in vielen Fällen vermieden werden könnte, wenn man den Mut aufbringen würde, mal offen über die Probleme zu sprechen.

Aber wie kann es dann gelingen, seine eigenen Bedürfnisse erst einmal zu erkennen und seine Belange auf angemessene Weise zu kommunizieren?

Die Lösung: Konstruktiv streiten

In wohl kaum einer Familie herrscht 365 Tage im Jahr eitel Sonnenschein. Meinungsverschiedenheiten und Konflikte sind menschlich und gehören dazu. Und ja, man darf auch wütend sein und sollte auch den Raum bekommen, diese Emotionen angemessen ausleben zu dürfen.

Wichtig ist, dass sich die Person, die das Problem hat, klar darüber wird, welches ihrer Bedürfnisse aktuell zu kurz kommt.

Ist tatsächlich die offene Zahnpastatube das Problem? Schließlich ist es nur eine Tube mit Zahncreme, deren Deckel nicht verschraubt ist. Oder steckt dahinter doch eher der Gedanke, dass man immer alles hinter der Familie herräumen muss? Und niemand sieht, was für Arbeit man den ganzen Tag in den Haushalt steckt? Wieviel (Lebens-)Zeit und Kraft das kostet und wieviel Zeit man selbst zurückbekäme, wenn sich doch jeder in der Familie mal etwas mit einbringen würde? Oder dass auch ein schlichtes „Danke“ mal angebracht wäre? Hier ist nicht die Zahnpastatube das Problem – die mangelnde Wertschätzung der betroffenen Person gegenüber steckt hier als eigentliche Ursache hinter dem Konflikt.

Es gilt also, Bewusstheit darüber zu erlangen, wo die eigentliche Ursache des Problems liegt und dann den Mut aufzubringen, auf möglichst sachlicher Ebene in den Austausch mit der anderen Person zu gehen. Es ist wichtig, rauszugehen aus dem Widerstand und rein in einen konstruktiven, lösungsorientierten Dialog, in dem alle Beteiligten nach einer gemeinsamen Lösung, bzw. einem Kompromiss suchen.

Ja, diese Form der Konfliktbewältigung will gelernt sein und kostet mitunter viel Zeit und Energie. Aber es lohnt sich. Die Alternativen sind auf lange Sicht nämlich das deutlich größere Übel.

Dauerstreitigkeiten über viele kleine belanglose Dinge, ohne dem eigentlichen Problem auf den Grund zu gehen, explosionsartige Entladung der aufgestauten Wut, oder noch schlimmer, der wortlose Kontaktabbruch, der oft ratlose und verzweifelte Familienangehörige zurücklässt.

Fazit

Es gilt also, Meinungsverschiedenheiten nicht aus dem Weg zu gehen, sondern sich der Situation zu stellen. Nicht über jede Kleinigkeit einen Streit vom Zaun zu brechen und sich über alles aufzuregen, was der andere tut, aber auch nicht ständig klein beizugeben.

Ein gesundes Mittelmaß muss her, bei dem sich alle Beteiligten mit ihren individuellen Bedürfnissen gesehen und gehört fühlen. Wo alle ihre eigene Meinung einbringen können und eine freie Meinungsäußerung möglich ist, ohne Sorge vor negativen Konsequenzen haben zu müssen. Diese Rahmenbedingungen bieten einen guten Nährboden für eine gesunde Streitkultur.

Findet man allein keinen Zugang, wie sich Konflikte konstruktiv lösen lassen und wird der Leidensdruck zu hoch, kann Hilfe von außen das Mittel der Wahl sein. Oft sind es kleine Verhaltensmaßnahmen im Alltag, die schon eine Besserung der Beziehung herbeiführen können. Ein Tipp von einer außenstehenden Person, und schon weiß man sich bei Meinungsverschiedenheiten zu helfen, oder versteht den Gegenüber besser.

Auf diese Weise lassen sich chronische Probleme in Familien von vornherein schon vermeiden und auch der Ultima Ratio – dem Kontaktabbruch – kann so erfolgreich entgegengewirkt werden.

Es ist nie zu spät, eine gesunde Streitkultur und konstruktive Konfliktbewältigung im Familienalltag zu etablieren. Denn nur so kann nach einem reinigenden Gewitter die Sonne auch wieder mit ganzer Kraft scheinen.